Red Alert bei Pogrom-Gedenken: Jüdische Bevölkerung weltweit wieder unter Bedrohung

Red Alert bei Pogrom-Gedenken: Jüdische Bevölkerung weltweit wieder unter Bedrohung
Gut 70 Menschen – darunter auch Landrat Andreas Meier und Landtagsabgeordneter Stephan Oetzinger – sind am Sonntag der Einladung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) gefolgt. Schüler des Kepler-Gymnasiums verteilten im Vorfeld Rosen an den Stolpersteinen im Stadtgebiet. Die Steine erinnern an die 56 jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Weiden, die im Nationalsozialismus ermordet wurden.
Hakenkreuz in Bordstein gemeißelt
Wie OB Jens Meyer erinnert, herrschten in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 pure Willkür und offen getragene Gewalt – auch auf den Straßen der Stadt Weiden. “Für die jüdischen Deutschen ein einziger Alptraum.” SA und SS verwüsteten in der Nacht zum 10. November 1938 die Wohnungen jüdischer Familien und die Synagoge. Es kam zu Misshandlungen und Plünderungen. Am Folgetag wurden 23 jüdische Weidener ins KZ Dachau gebracht.
Das heutige Gedenken sei von bedrückender Aktualität. Antisemitismus habe spürbar zugenommen: in Medien und auf offener Straße, an Stammtischen und in Schulen. Der Oberbürgermeister erwähnt ein kürzlich entdecktes Hakenkreuz, das in einen Bordstein in der Kurfürstenstraße gemeißelt war. “Das macht mich fassungslos.” Sein Schluss: “Die Erinnerung darf niemals enden.”
Bedrohung für israelische Menschen ist Alltag
Emotional wird Rabbiner Dannyel Morag, der eigentlich” nur” das jüdische Totengebet Kaddish singen wollte. Er hadert mit dem Sinn der Gedenkfeier: Natürlich sei es schön, “so viele gute Menschen zu sehen”, die alle an ein “nie wieder” appellierten. Aber schon beim Einsteigen in das Auto an der nächsten Ecke habe er das Gefühl: “C’est tout. Das war’s.”
Dabei ist aus seiner Sicht längst nicht alles gut. Während der Gedenkfeier habe in seiner Tasche das Handy gebrummt. Er hat die in Israel gebräuchliche Alarm-App “Tseva adom” (Farbe rot, Red alert) installiert. Das Warnsystem melde gerade jemenitischen Raketenbeschuss auf Israel. Die israelische Bevölkerung lebe in einem fortdauernden “Tohuwabohu”.
Morag wirft auch einen Blick nach Berlin, wo gegenüber einer Gedenkveranstaltung zum 9. November Rechtsextremisten ihre Parolen schreien: “Das nennt man dann Demokratie? So eine Demokratie kann ich nicht verstehen.”
Imam unter den Rednern
Leonid Shaulov, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Weiden, gedenkt der sechs Millionen Juden, die im Nationalsozialismus umgebracht wurden: “Es ist nicht möglich, das zu vergessen.” Er habe Respekt vor jedem, der zum Gedenken gekommen sei: “Danke im Namen der jüdischen Gemeinde.” Shaulov: “Unser Wunsch ist Frieden und nochmal Frieden. Auf Erden und in den Seelen.”
Maher Khedr, Imam des deutschsprachigen Muslimkreises, zitiert den Koran, der zu Dialog, Respekt und Brüderlichkeit auffordere: “Wir stehen heute hier – Juden, Christen, Muslime – vereint im Glauben an die Menschlichkeit.”
Situation im Gaza-Streifen nach wie vor ungeklärt
Pfarrer Alfons Forster, katholischer Vorsitzender der GCJZ, bedauert den wieder anschwellenden Antisemitismus, der Folge des brutalen Großangriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023 und des darauf folgenden Krieges im Gaza-Streifen ist. “Je länger dieser Krieg dauert, desto mehr wachsen Hass und Antisemitismus in unserem Land und weltweit.”
Ein Ende sieht er nicht: Radikale Terroristen bestimmen nach wie vor die Geschicke des palästinensischen Volkes; gleichzeitig sei die Regierung Netanjahus von rechtsradikalen Koalitionspartnern abhängig. “Wie soll da ein Friedensprozess in Gang kommen?”
Elftklässler des Kepler-Gymnasiums mit ihrem Lehrer Tobias Wagner lesen die Namen der über 50 Weidener Holocaust-Opfer vor. “Es ist die Aufgabe der jungen Generation, das Erinnern weiterzutragen”, sagt Sophie Fütterer. Der gemeinsam vorgetragene Appell der Schüler: “Mensch sein.”
Die Reichspogromnacht in Weiden
Aus den staatsanwaltlichen Akten von 1946 (Staatsarchiv Amberg) lässt sich – zumindest ansatzweise – der Ablauf der Reichspogromnacht in Weiden rekonstruieren. In Weiden kam es bis 1948 zu 10 Prozessen gegen 46 Männer wegen Landfriedensbruchs.
In der Reichspogromnacht von 9. auf 10. November 1938 durchlitten die jüdischen Familien in Weiden Angst und Schrecken. Viele von ihnen lebten in der Innenstadt und Altstadt, wo sich auch ihre Geschäfte befanden. Die Stimmung war aufgeheizt. Die Stadt war ein Flaggen-Meer. Am Abend feierte die SS im Evangelischen Vereinshaus den „Totengedenktag der Bewegung“, den Jahrestag des gescheiterten Hitlerputsches. Die SA wiederum war zur Hauptfeier der Nordoberpfälzer NSDAP zum Sportplatz St. Felix in Neustadt/WN marschiert.
In Weiden begann das Pogrom, als die Weidener SA gegen 21.45 Uhr aus Neustadt/WN zurückkehrte. Der Weidener Kreisleiter Franz Bacherl, ein aus Waidhaus stammender Lehrer, bekam telefonisch den Befehl zur Auslösung des Judenpogroms. Er bezog Stellung auf dem Polizeirevier im Alten Rathaus. In einer staffelartigen Alarmierungskette holte die SA ihre Leute aus den Betten. Ein Motorradfahrer fuhr die Häuser ab, von der Moosloh-Siedlung bis in den Hammerweg. Treffpunkt war am Alten Rathaus, wo Zettel mit etwa zwei Dutzend Adressen verteilt wurden. Ab etwa 22.30 Uhr rollte eine Welle der Brutalität und Zerstörung über die jüdischen Haushalte hinweg.
In Gruppen drangen die SA-Angehörigen in die jüdischen Wohnungen ein und rissen die Bewohner aus dem Schlaf. Es kam zu Misshandlungen und Schlägen. Alte Menschen, Frauen und Mädchen wurden, teils dürftig bekleidet, auf die Straße gezerrt; Versteckte aus Schränken geholt und unter Betten hervorgezogen. Anwohner berichten von Schreien, dem Klirren der Scheiben. Möbel wurden zerschlagen, Lampen splittern. Durch manche Häuser konnte man danach durchsehen, weil alle Türen eingetreten waren. Bei Sterzelbachs wurde mit einer Axt das Klavier zertrümmert.
Ein Rollkommando von etwa einem Dutzend Männern stürmte die Synagoge im ersten Stock in der Ringstraße. Oberbürgermeister Hans Harbauer war vor Ort. Die Zerstörungswut war so groß, dass sich ein SS-Oberscharführer dabei selbst verletzte. Gebetsrollen und Bücher wurden auf die Straße geworfen, Teppiche, Silbergeräte und eine Armenkasse geplündert. Ein Mob drang auch in die Kanzlei von Justizrat Dr. Franz-Joseph Pfleger ein, der jüdische Mandanten vertrat, und bedrohte dessen Frau und Tochter.
Die jüdischen Männer wurden von Polizeibeamten in „Schutzhaft“ genommen und zum Alten Rathaus gebracht, “vielfach verletzt und blutend”, wie es in einem Urteil heißt. Es gibt Aussagen, die eine “zusammengerottete Menschenmenge” am Oberen Markt beschreiben: “Die jüdischen Bürger wurden zusammengetrieben und unter Schlägen durch ein von der Menschenmenge gebildetes Spalier zum Rathaus gebracht.”
Erst am frühen Morgen gegen 6 Uhr kehrte in den Gassen und auf den Plätzen der Stadt Weiden wieder etwas Ruhe ein. Den ganzen Tag über kam es vor den Häusern noch zu judenfeindlichen Ausschreitungen und weiteren Plünderungen, viele Bewohner konnten zunächst nicht zurückkehren.
Am Folgetag brachte ein Omnibus 23 Weidener Juden ins KZ Dachau. Noch in der gleichen Woche wurde der Weidener Kaufmann Hermann Fuld von einem Wachmann erschossen. Er war damit der erste Tote Weidens in einem KZ.


















