85. Todestag von Emma Wilmersdörfer: Bei Krankenmord-Aktion T4 getötet

85. Todestag von Emma Wilmersdörfer: Bei Krankenmord-Aktion T4 getötet
Emma Wilmersdörfer war 57 Jahre alt, als sie 1940 im Rahmen des Euthanasiepogramms T4 in die Tötungsanstalt Schloss Hartheim deportiert wurde. “Aktion T4” bezeichnet den systematischen Massenmord an 70.000 Behinderten und psychisch Kranken. Emma Wilmersdörfer litt an einer psychischen Erkrankung und war deshalb in der Taubstummenanstalt Michelfeld (Auerbach) untergebracht.
Die Umstände ihres Todes waren jahrzehntelang ein Rätsel. Ihre vier erwachsenen Kinder versuchten bis in die 1990er Jahre vergeblich herauszufinden, was mit ihrer Mutter geschehen war. Sie waren zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung bereits ins Ausland geflohen. Sie taten gut daran: Familie Wilmersdörfer verlor im Holocaust 37 Angehörige, darunter auch Emmas Schwager Hugo Wilmersdörfer aus Floß, wo die Familie seit Mitte des 19. Jahrhunderts beheimatet war, sowie mehrere Verwandte aus Weiden.
Filiale eines Weidener Kaufhauses
Wie kam es überhaupt, dass sich eine jüdische Familie in Grafenwöhr niederließ? Max Wilmersdörfer betrieb um die Jahrhundertwende ein Geschäft in der Stadt Weiden. Er richtete 1909 für seinen Bruder Jakob eine Filiale in Grafenwöhr ein, wo bis dahin nur ein jüdischer Bürger gemeldet gewesen war. Am Stadtplatz 89 eröffnete eine “Militär-Effekten- und Galanteriewaren-Handlung”, also ein Geschäft für modische Militär- und Kleidungsaccessoires.
Besonders gut lief der Laden nicht: Jakob Wilmersdörfer akzeptierte großzügig auch Naturalien als Bezahlung. Die Konkurrenz der Wäschefirma Witt war ohnehin erdrückend. Jakob Wilmersdörfer war vielleicht kein sehr guter Geschäftsmann, aber im Ort gern gesehen. Wie sich seine Tochter Gertrud in den 1990er Jahren gegenüber Heimatforscher Gerhard Müller erinnerte, war er gutmütig und wortgewandt: Für viele Grafenwöhrer schrieb er Briefe an Behörden, wenn sie sich nicht zu helfen wussten.
Vater stirbt an Tuberkulose, Mutter erkrankt an Schizophrenie
Das Leben der Familie erlitt Anfang der 1930er Jahre einen brutalen Bruch. Die vier Kinder (geboren zwischen 1914 und 1919 in Grafenwöhr) waren gerade Teenager, als der Vater 1933 im Krankenhaus Weiden an Tuberkulose starb. Seine Frau Emma (Jahrgang 1883), eine musisch begabte Metzgerstochter aus dem Altmühltal, verfiel einer “Gemütskrankheit”, wie man es damals nannte.
In einem Überführungszeugnis ist von Schizophrenie die Rede. Ab 1932 wurde sie stationär im Bezirkskrankenhaus Regensburg behandelt, von 1935 bis 1940 in der Taubstummenanstalt Michelfeld (Auerbach), die auch “weibliche Geistesschwache” betreute. Ihre Kinder kamen zu Verwandten.
Tochter geht in den Widerstand
Besonders viel weiß man über das abenteuerliche Leben von Tochter Gertrud Wilmersdörfer (Jahrgang 1915), die bei einer Tante in Frankfurt unterkam. Sie schloss sich schon früh einer Widerstandsbewegung gegen das Hitler-Regime an. 1934 wurde sie in Kassel wegen “Beihilfe zur Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens” zu einer Haftstrafe verurteilt.
1936 floh sie – schweren Herzens, da sie ihre kranke Mutter zurücklassen musste – nach Bulgarien und später nach Frankreich. Auch dort lebte die gebürtige Grafenwöhrerin gefährlich: Gemeinsam mit ihrem Mann engagierte sie sich jahrelang in der Résistance. In all diesen Jahren hielt sie Kontakt zur Oberin in Michelfeld.
Briefverkehr liegt in Londoner Archiv
Der Briefverkehr ist heute in “The Wiener Holocaust Library” in London archiviert. Die beiden pflegten ein beinahe freundschaftliches Verhältnis. Der Bayreuther Historiker Dr. Norbert Aas hat die Briefe ausgewertet. Immer wieder erkundigt sich Gertrud nach dem Gesundheitszustand ihrer Mutter – ob aus Sofia oder Paris.
Sie schickt Pakete, mit Schokolade und Käse. Die Geschenke kämen an, bestätigt die Oberin. Die Mutter freue sich sehr; selbst Briefe zu schreiben sei ihr leider nicht möglich. 1936 kommt es zu einem letzten Besuch in Michelfeld. Die Oberin hilft danach, eine dringend nötige Zahnbehandlung der Patientin in die Wege zu leiten. Gertrud drückt ihr dafür 1936 postalisch den “heißinnigsten Dank” aus. Dann reißt der Kontakt ab.
Kloster diskutiert Taufe zur Rettung
Um die psychisch kranke Emma Wilmersdörfer zieht sich die Schlinge zu. 1939 beginnen die Behörden, sich einen Überblick über “geisteskranke Juden” zu verschaffen. Das Kloster Michelfeld rückt in den Blickpunkt des Gendarmeriepostens Auerbach, beauftragt vom Landratsamt Eschenbach. Es gibt einen Beleg, wonach die Oberin noch nach einer Lösung suchte, ihre vier jüdischen Patientinnen zu schützen. Per Brief diskutiert sie mit dem Rektor der Regens-Wagner-Anstalten in Dillingen, ob eine Taufe möglich sei.
All das rettet Emma Wilmersdörfer nicht. Am 14. September 1940 werden die vier jüdischen Patientinnen in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München verlegt. Von dort werden die Frauen am 20. September in “eine Sammelanstalt verbracht”, teilt die Anstalt Eglfing-Haar dem Kloster Michelfeld mit. Ein Ort wird nicht genannt.
Ein “gutes Plätzchen”
Wo und wie starb Emma Wilmersdörfer? Diese Frage beschäftigt ihre Angehörigen zeit ihres Lebens. 1941 bekommt ihr Bruder Heinrich (inzwischen in der Schweiz) die krude Antwort aus Michelfeld, “dass die liebe Mutter nun ein gutes Plätzchen hat”. Jahrzehntelang jagen ihre Kinder einer falschen Spur nach; Aus Michelfeld heißt es, dass eine der Mitpatientinnen angeblich in der Irrenanstalt Cheim bei Lublin (Polen) gestorben sei. Dort vermutet man auch den Sterbeort von Emma Wilmersdörfer – und läuft ins Leere.
Noch 1991 ist ihr Schicksal völlig unklar. Der Direktor von Eglfing-Haar antwortet auf Nachfrage, dass “nichts zu finden” sei. Nach Einschätzung des Bayreuther Historikers Dr. Norbert Aas ist das nicht fair: Es sei vielleicht keine Akte angelegt. Aber schon die Nürnberger Ärzteprozesse von 1946/47 hätten die Wahrheit ans Licht gebracht. Im Alter von 77 Jahren fragt Gertrud immer noch verzweifelt nach: “Es muss doch zu ersehen sein, was letzten Endes geschehen ist?” Sie sammelt in ihrem Zuhause in London jeden Schnipsel, den sie über die T4-Krankenmorde finden kann.
Heute weiß man mehr. “Nach allem, was wir heute wissen, ging der Transport in die nächstgelegene Tötungsanstalt”, schreibt Historiker Aas in seiner Arbeit über Emma Wilmersdörfer. Das war im Herbst 1940 Schloss Hartheim bei Linz in Oberösterreich. Dort wurden die Menschen mit Kohlenmonoxyd erstickt, man riss ihnen die Goldzähne aus und verbrannte ihre Körper im Krematorium von Schloss Hartheim. Die Asche wurde teilweise einfach in die Donau gekippt.
In Grafenwöhr wird ihrer gedacht
Und heute? Ganz vergessen ist Emma Wilmersdörfer in ihrem früheren Wohnort nicht: Das Gymnasium Eschenbach beschäftigt sich beispielsweise regelmäßig mit ihrem Schicksal. Gemeinsam mit Regens Wagner wurde vor einigen Jahren ein Audiolog erarbeitet. Auch im Kultur- und Militärmuseum Grafenwöhr wird der ermordeten Kaufmannsfrau gedacht.
Quellen:
“Zur Geschichte der Familie Wilmersdörfer” von Gerhard Müller in “Oberpfälzer Heimat”, Band 37, 1993;
“Konfrontation mit der NS-Euthanasie: Welche Verantwortung trug die Anstalt Michelfeld für den Abtransport einer ihrer Bewohnerinnen in den Tod?” von Dr. Norbert Aas.
The Wiener Holocaust Library
Yad Vashem, Gedenkblatt, ausgefüllt von Sohn Richard Wilmers (Großbritannien)
Mit Unterstützung von Matthias Flierl, Öffentlichkeitsarbeit Regens Wagner




