Flucht über das Mittelmeer - Syrische Familie baut sich neues Leben in Tirschenreuth auf
Flucht über das Mittelmeer - Syrische Familie baut sich neues Leben in Tirschenreuth auf
Sommer 2014. “Das Meer war eine Katastrophe”, sagt Mutter Amira. “Ich habe dort alles gesehen.” Sie war 24 Jahre alt und schwanger, als sie mit ihrem Mann Mohamad und den drei Kindern (8, 7 und 2 Jahre) in Libyen auf einen Kutter nach Italien stieg. Die Schleuser packten etwa 200 Familien auf den Frachter. Die Überfahrt kostete 300 Euro pro Person.
Das Schiff war fast zwei Wochen unterwegs. Führerlos, weil die Verantwortlichen von Bord gingen. Die Mutter erinnert sich an Delfine, die das Boot begleiteten. Die Nahrung ging aus, es gab kein Wasser mehr. Mütter stillten ihre Kinder mit Salzwasser. Menschen starben, darunter viele Babys. Sohn Rawad, damals 7, weiß noch, dass der Vater ihm ein schwarzes Tuch über die Augen band. Er sollte das nicht sehen.
Fünf von 25 Millionen Syrern auf der Flucht
Deutschland war ursprünglich gar nicht als Fluchtziel geplant gewesen. “Wir wollten in den Libanon”, erzählt Amira. Erst als die Nachbarländer im Nahen Osten die Aufnahme stoppten, ergab sich die Flucht nach Mitteleuropa. Al Najjars saßen da schon zwei Jahre in Libyen fest. Fünf von 25 Millionen Syrern waren auf der Flucht. Ihre Eltern waren nach Jordanien geflohen, seine Eltern in die Türkei, Geschwister in den Libanon.
Ich frage mich manchmal, wie wir das überlebt haben. Die Wahrscheinlichkeit zu sterben war größer, als die Wahrscheinlichkeit zu überleben.
Amira Al Najjar über die Bootsfahrt über das Mittelmeer
Nur Minuten vor der Rettung – ein anderes Schiff in Sichtweite – begann das Boot zu bersten. Es knisterte. Panik brach aus. Tochter Rawan (damals 8, heute 19) weiß noch, wie sich der Vater das Hemd vom Oberkörper riss. Er und die anderen Männer versuchten, das eindringende Wasser aufzusaugen und auszuwringen. Um 3 Uhr nachts erfolgte der Landgang. Die Eltern wateten mit ihren Kindern an den Strand, die Hände umklammert. Die Strömung riss ihnen immer wieder den Boden unter den Füßen weg.
Die zwei Wochen auf See haben Spuren hinterlassen. Noch heute hat die Mutter vor dem Meer eine panische Angst. Sie würde nicht einmal auf einem Oberpfälzer Weiher in ein Tretboot steigen. Verwandte hatten am Telefon vor einer Überfahrt über das Mittelmeer gewarnt: “Ihr geht in den Tod.” Bis heute reden die Familienmitglieder fast täglich über die Flucht.
Mit dem Zug nach München: “Wir waren gefühlt die ersten”
In Italien waren Sommerferien. Die Weltmeisterschaft in Brasilien lief, in der sich Deutschland den Titel holte. Die italienischen Behörden stellten die Personalien fest und ließen die Flüchtlinge weiterziehen. Diese fuhren mit dem Zug direkt nach München. Sie sahen dort mehr Chancen für ihre Kinder. Deutschland gilt nach wie vor als Nonplusultra: “Jeder will dahin.”
In München war man im Sommer 2014 noch gar nicht auf das Problem eingestellt. Die Polizei am Bahnhof war überrascht. Einen Arabisch-Dolmetscher hatte man nicht. “Wir waren gefühlt die allerersten”, sagt Rawad.
Die Familie wurde über eine Erstaufnahmeeinrichtung in München – gemäß Königsberger Schlüssel – der Oberpfalz zugeteilt. Die Familie zog in die Gemeinschaftsunterkunft in der Kantstraße in Altenstadt/WN. 2016 ergab sich nach einem Pressebericht die Chance, in eine eigene Wohnung nach Tirschenreuth zu ziehen. Tirschenreuth gefiel den Al Najjars sofort: der Fischhofpark, der Spielplatz, die Infrastruktur mit Schulen, VHS, Jobcenter. In dieser Wohnung lebt die Familie noch heute.
Mittlere Reife und ein Arbeitsplatz
Und wie geht’s? “Wir haben uns richtig gut aufgebaut”, sagt Tochter Rawan, heute 19. Die Eltern absolvierten Deutschkurse bis B1 und den Integrationskurs “Leben in Deutschland”. Mit dem Umzug nach Tirschenreuth trat der Vater seine erste Arbeitsstelle an. “Als Vater zum ersten Mal in die Arbeit ging, kam er heim und sagte: Die sprechen da kein Deutsch”, lachen die Kinder. Es stellte sicher heraus: Die Kollegen waren Tschechen und Oberpfälzer. Aktuell arbeitet der Vater in einer Bäckerei, er war auch schon als Hausmeister und Schreiner angestellt.
Rawan und Rawad haben vor kurzem die Prüfung zur Mittleren Reife an der Mittelschule Waldsassen abgelegt. Sie haben die FOS/BOS im Visier. Bedanken möchten sie sich bei Lehrerin Sandy Wendt von der Mittelschule Waldsassen, die immer wieder angeschoben hat. “Sie hat uns sehr viel geholfen.” Jawad ist in der siebten Klasse, Mutassim in der Vierten, Tochter Betul-Mina in der Dritten.
Mutter Amira hat selbst keine Schule besucht. Sie hat mit 15 Jahren geheiratet und Kinder bekommen. Sie ist beeindruckt vom deutschen Schulsystem, in dem jeder das Recht hat zu lernen, unabhängig von Herkunft und Geldbeutel.
Sportvereine sehr wichtig
Feindseligkeiten? Kennen sie alle. “Geht in euer Land. Ihr lebt auf unsere Kosten hier. Warum trägst du ein Kopftuch”, zählt Rawan auf. Sie antwortet darauf: “Seid doch froh: Ich habe etwas Neues mitgebracht.” Aber im Großen und Ganzen gelte: “Ich habe gute Freunde.” Sie hat inzwischen mehr Lebenszeit in Tirschenreuth als in Damaskus verbracht. Die 19-Jährige und ihr 17-jähriger Bruder fühlen sich als “Araber-Deutsche”, keiner Nationalität wirklich zugehörig.
“Ich wehre mich mit Witzen”, sagt ihr Bruder Rawad. Die Zeiten sind vorbei, dass er in der Grundschule herumgeschubst werde. “Ich habe ein starkes Netz an Freundschaften.” Alle Kinder sind in Sportvereinen. Die Regale stehen voller Pokale. Rawad hat kürzlich den Bavaria-Cup im Kickboxen gewonnen.
Auf einem der Fotos vom Pokalgewinn jubeln die Al Najjars noch aus einem anderen Grund: Es war der Tag des Sturzes von Diktator Baschar Assad. “Ich habe zwei Monate gebraucht, bis ich das glauben konnte”, sagt Mutter Amira. Ihre Familien sind vor Assads Truppen geflohen, Angehörige saßen in Haft.
Wir fahren in unserer Freizeit an den Gaisweiher. Oder wir gehen wandern. Wir sind sehr eingedeutscht.
Rawad Al-Najjar (17)
Frage in vielen Haushalten: Gehen wir zurück?
Seitdem gibt es in den Telefonaten nur ein Gesprächsthema: Geht ihr zurück? Die ersten Rückmeldungen aus dem befreiten Syrien sind durchaus positiv. Rückkehrer berichten davon, dass es zwar wenig gäbe – kaum Waren, kein Geld, oft keinen Strom. Aber es sei eben das Heimatland. Nach und nach wächst das Vertrauen in den islamistischen Übergangspräsidenten Ahmed al-Sharaa.
Viele Ingenieure, viele Ärzte kommen wieder. In Social Media werden Freiwillige aufgefordert, beim Wiederaufbau zu helfen. “So wie damals in Deutschland die Trümmerfrauen.”
“Geheimsprache” der Kinder: Oberpfälzisch
Die Eltern Amira und Mohamad, 35 und 50, wollen nach Syrien zurückkehren – zumindest früher oder später, wenn die Kinder mit der Schule fertig sind. Die fünf Kinder wollen nicht. Tochter Rawan sieht ihre Zukunft in Deutschland, Sohn Rawad träumt von Neuseeland. Die drei jüngeren Geschwister können sich unter Syrien überhaupt nichts vorstellen. Die zwei Kleinsten sind in Weiden geboren.
Der Haushalt Al Najjar ist zweisprachig. Wenn die Eltern auf Arabisch etwas fragen, antworten die Kinder auf Deutsch. Damit sie die Sprache ihrer Großeltern nicht ganz verlernen, hat Amira die Kleinen zu Online-Arabisch-Unterricht “zwangsverpflichtet”. Wenn die Eltern etwas nicht verstehen sollen, reden die Geschwister Oberpfälzisch.
Alle sieben Familienmitglieder haben den deutschen Pass. Sie sind frei, frei zu reisen. Gemacht haben sie das noch nie. Höchstens nach Wuppertal, wo man Freunde aus der Erstaufnahmeeinrichtung hat. “Wir fahren in unserer Freizeit an den Gaisweiher”, sagt Rawad. “Oder wir gehen wandern. Wir sind sehr eingedeutscht.”
Dank an Familienpatin Vera Brieger
Das ist auch der Verdienst der ehrenamtlichen Helferin Vera Brieger aus Altenstadt/WN. “Sie ist für mich wie eine Mutter, für die Kinder eine Großmutter”, sagt Amira. Die größte Überraschung ist, dass Vera keinen Geburtstag vergisst. In Syrien werden Jahrestage nicht gefeiert. “Daten sind total egal.” Amira und Mohamad kennen ihren Hochzeitstag “nur ungefähr”.
Das Fazit von Familie Al Najjar über Deutschland fällt nach über zehn Jahren positiv aus. “Wir sagen den Verwandten oft: Es ist nicht so einfach, wie ihr euch das vorstellt”, berichtet Tochter Rawan. Deutschland sei “eine andere Welt”. “Aber wir sind sehr dankbar hier.”






