Völlig verlassen – allein auch auf der Anklagebank

Weiden. Das Geschehen mache betroffen und wecke Emotionen, dennoch sei es Aufgabe des Gerichts, die Tat ausschließlich nach Maßgabe des Gesetzes zu beurteilen. Oberstaatsanwalt Rainer Lehner versucht gleich zu Beginn seines Plädoyers möglichen Reaktionen auf das Urteil den Wind aus den Segeln zu nehmen. Steffi D. ist wegen eines minder schweren Falles des Totschlags zu sechs Jahren Haft verurteilt worden.

Von Benedikt Grimm

Ohne jeden vernünftigen Zweifel sei nachgewiesen, dass die 21-jährige Mutter ihren Säugling getötet habe. Die Beweisaufnahme habe die bisherigen Erkenntnisse vollumfänglich bestätigt. Spätestens seit Januar habe sie von der Schwangerschaft gewusst.  Entgegen ihren Aussagen gegenüber dem psychiatrischen Gutachter habe sie sich keineswegs auf das Kind gefreut. In Textnachrichten habe sie es als “Ding” bezeichnet und mehrfach geschrieben, dass sie jetzt kein Kind wolle. Mitte April habe sie sich dann ernsthaft zur anonymen Geburt entschlossen. Die Geburt in der Toilette sei dann weder gewollt noch geplant gewesen, so der Staatsanwalt. Auch Vorsitzender Richter Walter Leupold hält ihr in der Urteilsbegründung zu Gute, dass sie alles für die Adoption vorbereitet hatte.

Katastrophale Drucksituation

Doch obwohl sie am Morgen des 25. April und in der Nacht zuvor bereits Beschwerden hatte, die sie als Senkwehen deutete, vermochte sie ihrem Vater, der sie wie jeden Samstag zum gemeinsamen Einkauf mitnehmen wollte, nicht zu widersprechen. Der Vater hatte angekündigt, sie mit einem weiteren Kind aus der gemeinsamen Wohnung zu werfen, ihr klar gemacht, dass sie sich mit drei Kindern einen Strick nehmen könne. Mehrere Zeugen hätten ein Verhältnis der Abhängigkeit von dem cholerischen Vater und eine kühle Beziehung bestätigt.

Zwischen 10.23 und 10:54 Uhr bringt Steffi D. auf der Kundentoilette des Neustädter Verbrauchermarktes das kleine Mädchen zur Welt. Jedenfalls beim zweiten Klopfen des Vaters an der Tür sei es schon da gewesen. In dieser “katastrophalen Drucksituation und nachvollziehbar auch in Panik” – so Oberstaatsanwalt Lehner – habe sie nur zwei Alternativen gehabt. Mit dem Kind und all den gefürchteten Konsequenzen die Toilette verlassen oder sich endgültig dessen zu entledigen.

Ungeachtet des überragenden Wertes des menschlichen Lebens hat sie sich für die Tötung entschieden

In ihrer Aussage hatte Steffi D. geschildert, dass sie ihr Kind nur in den Müllsack gebettet habe und es später abholen wollte. Diese Version widerlegt Lehner. Weder dem Freund ihrer Cousine, der sie ins Krankenhaus brachte, noch den Ärzten, noch ihrem Onkel habe sie etwas gesagt. “Das kann nur damit erklärt werden, weil sie wusste, dass es nichts zu retten gab”, sagt Lehner. Auch Leupold lässt in der Urteilsbegründung keine Zweifel aufkommen:

Sie war die einzige, die ein Motiv hatte. Sie war auch die einzige, die eine vernünftige Gelegenheit hatte. Sie hat’s getan.

Sowohl Staatsanwalt als auch Vorsitzender Richter gehen nicht von einem Mord aus. Während Lehner das Mordmerkmal bereits objektiv für nicht gegeben hält – von Zufügung langanhaltender Qualen könne nicht ausgegangen werden – ist Leupold nur davon überzeugt, dass jedenfalls die Gesinnung der Angeklagten nicht auf eine grausame Tötung ausgerichtet war. Bis zur Bewusstlosigkeit des Säuglings sind laut Gutachter 30 Sekunden bis zu einer Minute vergangen. Leupold betont, dass der Sachverständige ausgesagt habe, dass Kleinkinder gleich empfinden würden wie Erwachsene.

Das waren schrecklich lange 30 Sekunden, wo man alles, was einem zur Verfügung steht, einsetzt, um die Lungen wieder mit Luft zu füllen

Die Eingangskriterien für eine verminderte Schuldfähigkeit lägen nicht vor. Die Ausgangslage müsse aber durchaus berücksichtigt werden. Es sei nicht verständlich, warum sich niemand der Angeklagten angenommen habe, die zum Zeitpunkt der Schwangerschaft gerade einmal einundzwanzig Jahre alt gewesen war. “Aber man redet ja nicht miteinander. Und wenn es doch mal dazu kommt, dann nicht konstruktiv. Dann gibt es nur wieder Drohungen”, skizzierte Lehner die familiäre Situation von Steffi D. nach. Noch deutlicher wird Leupold

Wir haben eine junge Frau, die völlig verlassen auf sich gestellt war

Hilfe wird ihr nicht zuteil. Der Kindsvater dränge nur immer: “Weg damit, weg damit, weg damit.” Die Wutausbrüche des Vaters würden von der restlichen Familie hingenommen, als sei das normal. Und dennoch:

Auf der Anklagebank sitzt nur sie. Da stellt sich schon die Frage, ob da nicht der Vater dazugehört

Verteidiger: Totschlag nicht zweifelsfrei

Verteidiger Christoph Scharf schließt sich “in großen Zügen” den Ausführungen der Staatsanwaltschaft an. “Die Beweisaufnahme hat sicherlich ergeben, dass etwas Schreckliches passiert ist”, sagt Scharf. Dennoch habe seine Mandantin die Tat nicht gestanden. Als Verteidiger müsse er darauf hinweisen, dass es keine unmittelbaren Tatzeugen gab und damit eine Indizienkette vorliegen müsste, die keine Zweifel offen lasse. Zweifel aber blieben. Gerade die Videoaufzeichnungen, von denen wenige Sequenzen fehlen, würden nicht ausschließen, dass doch ein Dritter das Kind getötet haben könnte. Scharf plädiert daher auf Aussetzung. Wegen Aussetzung macht sich strafbar, wer einen Menschen in eine hilflose Lage bringt und ihn dadurch der Gefahr des Todes aussetzt. Schwerer wiegt die Tat, wenn der Ausgesetzte ein Kind ist, oder durch die Aussetzung stirbt.

Das Strafmaß einer Aussetzung in einem minder schweren Fall ist identisch mit dem Strafmaß eines Totschlags in einem minder schweren Fall: von einem Jahr bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe. Scharf plädierte auf vier Jahre Haft. Oberstaatsanwalt Lehner forderte sechs Jahre und sechs Monate.

Steffi D.

Bilder: B. Grimm

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